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Steuerberater haben einen nicht ganz leichten Job.

Estimations und das Steuerberater-Paradoxon

Entwicklungsteams schätzen Stories; mit fortschreitendem Projektverlauf werden die Schätzungen genauer und die Schwankungen der Velocity geringer. So steht es in agilen Lehrbüchern.

Meine Erfahrung ist eine andere: Es gibt im Laufe eines Projekts, auch in hervorragend funktionierenden Teams, immer wieder mal Phasen, in denen Stories hoffnungslos unterschätzt werden und die Velocity für ein paar Sprints massiv einbricht. Eventuell kommt sogar mal ein Sprint mit Velocity 0 vor. In solchen Situationen ist es aber auch nicht untypisch, dass kurz darauf eine Phase folgt, in der das Team für ein paar Sprints deutlich über der „typischen“ Punktemenge pro Sprint liegt. Das kann soweit gehen, dass im Backlog plötzlich sämtliche geschätzte Stories abgearbeitet sind und Nachschub fehlt.

Genau diese Situation habe ich vor kurzem im Projekt erlebt. Und als wir wieder auf unserer Velocity-Welle surften und in kurzer Folge etliche Stories abschließen konnten, hörte ich mich sagen: „Mmh, das mit der Genauigkeit unserer Schätzungen ist schon komisch. Aber im Moment überschätzen wir glücklicherweise, das ist für unseren PO ja immerhin angenehmer, als wenn wir unterschätzen…!?“.

Das Steuerberater-Paradoxon

An dieser Stelle eine kurze Analogie: die Arbeit eines Steuerberaters. Ein guter Steuerberater sollte zwei Ziele für seine Kunden verfolgen:

  1. die Steuerlast (legal!) minimieren
  2. den Zeitpunkt, an dem die Steuern abgeführt werden, möglichst weit in die Zukunft schieben, damit mit dem Geld länger „gearbeitet“ werden kann.


Wenn man das zweite Ziel konsequent verfolgt, führt das zu hohen Steuernachzahlungen. Rein wirtschaftlich gesehen ist das wünschenswert. Doch wer hat sich schon mal über einen Steuerbescheid mit einer saftigen Nachzahlung gefreut? Genau: niemand! Wie sieht das bei einer Rückerstattung aus? Jubel, Trubel, Heiterkeit! Die meisten Kunden eines Steuerberaters erwarten also von ihrem Steuerberater eine wirtschaftlich nicht sinnvolle Zielerfüllung. Wie geht man nun damit um? Das muss jeder Steuerberater für sich entscheiden, vermutlich wird es auch stark vom einzelnen Kunden abhängen. Letzten Endes muss er die Balance zwischen wirtschaftlicher Vernunft und emotionaler Zufriedenheit des Kunden treffen, um diesen an sich binden zu können. Das Steuerberater-Paradoxon.

Die richtige Balance finden

Zurück zu den Estimations: „Aber im Moment überschätzen wir glücklicherweise, das ist für unseren PO ja immerhin angenehmer, als wenn wir unterschätzen…!?“. Ist das wirklich so? Natürlich ist es für einen PO nervig, wenn ein Team Stories regelmäßig unterschätzt und die Entwicklung länger dauert als gedacht. Ein Team, das den PO regelmäßig mit den Worten „Ist schon fertig! :)“ überrascht, sorgt kurzfristig sicherlich für mehr Freude. Vom Ziel der Planbarkeit ist es aber genauso weit entfernt wie das unterschätzende Team. Was also tun? Mehr Aufwand in die Schätzungen stecken, um sie verlässlicher zu machen? Die Definition of Ready schärfer formulieren? Klarere Akzeptanz-Kriterien einfordern?

In unserem konkreten Fall haben wir tatsächlich gar nichts getan. Denn wenn man unsere Situation in einem größeren Rahmen betrachtet, dann sind wir, was die Planbarkeit unseres aktuellen Teilprojekts betrifft, absolut im grünen Bereich. Angesetzt auf sechs Monate werden wir im nächsten Sprint nach ca. drei Monaten ein funktionierendes MVP bereitstellen können. Es wird noch einige Anpassungen und Verfeinerungen geben, dafür haben wir aber auch noch ausreichend Zeit. Wir liegen also voll im Plan. Und damit befinden wir uns in einer für uns guten Balance zwischen dem Aufwand, den wir für Schätzungen betreiben, und deren Genauigkeit bzw. daraus resultierender Planbarkeit. Wir glauben nicht, dass sich in dieser Situation mehr Aufwand für exaktere Schätzungen rentiert.

Das Fazit

Daraus ergeben sich zwei Lehren:

  1. Die Schwankungen der Velocity sollten „rein theoretisch“ immer kleiner werden. Ist aber doch mal ein Ausreißer-Sprint dabei, muss man es stets in den größeren Kontext setzen. Panische Entscheidungen auf kausal konsistent erscheinender Mikroebene müssen nicht im Sinne des Gesamtvorhabens sein.
  2. Gerade beim Thema „Genauigkeit von Schätzungen“ entsteht häufig (blinder) Aktionismus. In jedem Projekt kommt man irgendwann an den Punkt, an dem eine Schätzung daneben ging. Das liegt in der Natur des Begriffs „Schätzung“. Das sollte man sich stets in solchen Situationen bewusst machen und gemeinsam als Team bewusst(!) darüber entscheiden, ob sich der zusätzliche Aufwand, um genauer schätzen zu können, lohnt.
Die Anzahl der ❤️-Symbole zeigt den intuitiven Wunsch, die Balance in diese Richtung zu verschieben. Die Anzahl der 💶-Icon verdeutlicht die damit verbundenen Kosten.

Um die Steuerberater-Analogie noch einmal aufzugreifen: Wo der Steuerberater also versucht, eine Balance aus dem wirtschaftlich sinnvollen, aber kontraintuitiven Vorgehen und der Erwartungshaltung des Kunden zu finden, sollten Entwicklungsteams nach einer Balance aus dem starken Wunsch nach verlässlichen Schätzungen und vertretbarem Zeitaufwand suchen.

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Über den Autor

Als Berater bei Holisticon arbeite ich im Geschäftsfeld BPM/SOA und setze mich mit der Architektur und der Implementierung von Prozessanwendungen auseinander. In der Teamarbeit sind mir agile Prinzipien wichtig, die jedem die Einbringung seiner Stärken ermöglichen.

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