Endlich ist die dritte Phase des Automatisierungsprojekts vorbei, Alle Kernprozesse des Unternehmens, die für die primäre Wertschöpfung zuständig sind, sind auf der neuesten Business Process Engine implementiert. Doch noch bevor der Rausch der Release-Party verflogen ist, beginnt die unaufhaltsame Entropie der Prozesse und des IT-Systems. Warum passiert das?
Ganz einfach – die Welt entwickelt sich weiter, das Unternehmen reagiert auf diese Veränderungen und verändert sich mit.
Schon während des Projektes hat man das gemerkt und hoffentlich nicht alle Eventualitäten implementiert, sondern durch eine geeignete Kosten-Nutzen-Analyse nur die relevanten Prozesse automatisiert. Doch auch im laufenden Betrieb des Systems darf diese Kosten-Nutzen-Analyse der Prozessimplementierung nicht fehlen. Das, was vor zwei Jahren das Richtige und das Innovative war, ist heute State-of-the-Art, oder gar schon Schnee von gestern. Doch wer überprüft eigentlich, ob die Prozesse von gestern heute noch Bestand haben? Und was passiert, wenn dies keiner tut?
Leider kommt es recht häufig vor, dass die Prozessorientierung als ein Projekt angesehen wird – also eine Aufgabe für eine bestimmte Zeit. Diese Einschätzung teilen wir nicht, sondern warnen explizit davor. Denn ohne richtige Verankerung in der Organisation veralten die Prozesse und sie können die Wertschöpfung des Unternehmens nicht effizient bedienen – zumindest nicht über die Zeit. Die veralteten Prozesse wirken dann als ein formaler und technischer Ballast und hindern das Unternehmen an der Weiterentwicklung. Viel mehr noch – je teurer das Projekt für die Automatisierung war, desto mehr Widerstand für die Anpassung erzeugt es – so ganz nach dem Motto: „Das fassen wir nicht an, hier haben wir doch letztes Jahr so viel Geld ausgegeben“.
Das führt zu einem ganz schrecklichen Szenario, in dem eine gute und innovative Idee der Prozessorientierung wegen der falschen Umsetzung zum Scheitern verdammt ist. Denn ohne eine Verantwortlichkeit, die in der Organisation verankert ist, verkommen die Prozesse mit der Zeit. Statt einer versprochenen Flexibilität wird die Prozessanwendung zum rigiden Monolith. Die Organisation und die Menschen fangen dann an, an diesem Monolithen vorbei zu arbeiten, was die Spreizung zwischen dem Business und der IT vergrößert.
Doch dazu muss es nicht kommen, wenn man die Prozessorientierung richtig versteht. In erster Linie ist es eine Disziplin, die Prozesse in den Mittelpunkt rückt – nicht nur zeitweilig, sondern dauerhaft. Das geht am besten, wenn die Organisation dafür neue Rollen schafft, um den Prozessen auf den Zahn zu fühlen: man spricht dabei von Prozess-Governance – bzw. steht dafür auch genau das „M“ in BPM: Management.
Die Prozess-Governance hat zum einen das Ziel, dass jeder Prozess einen Verantwortlichen im Fachbereich hat. Die Aufgabe des Prozessverantwortlichen ist es, die Leistung des Prozesses zu messen und zu überwachen. Dazu können z.B. KPIs definiert und im Prozess erhoben werden.
Es bedarf aber zum anderen zusätzlich einer koordinierenden Instanz zwischen den Prozessverantwortlichen, die das effiziente Zusammenspiel der Prozesse und die Ausrichtung an den Geschäftszielen überprüfen. Diese koordiniert dann notwendige Anpassungen: erst auf der Unternehmensebene, aber später auch in den dazugehörigen IT-Systemen. Manchmal stellt man fest, dass das Geschäftsmodell sich so geändert hat, dass ganz neue Prozesse entstehen und manchmal müssen die alten Prozesse, die nicht mehr zur Wertschöpfung beitragen, ganz stillgelegt werden und die dazugehörigen IT-Systeme zurückgebaut werden.
Fazit
Die Prozessorientierung ist eine langfristige Ausrichtung der Unternehmensstrategie entlang der Wertschöpfung und bedarf einer Verankerung in der Aufbauorganisation. Diese sollte es sowohl auf der Ebene eines einzelnen Prozesses als auch auf der übergeordneten Ebene geben, um die Prozesslandschaft insgesamt zu bewerten und kontinuierlich zu verbessern – z.B. durch eine „Prozesszentrale“. Die primäre Funktion dieser Einheit ist das Prozess-Controlling und Prozess-Governance. Damit ist die Flexibilität der Geschäftprozesse nicht nur eine Vision, sondern ein erreichbares Ziel und vor allem von Dauer.
Epilog
Mit diesem Beitrag endet unsere Antipatternreihe für 2016. Wir haben mit dem Sinn und allgegenwärtigen Dasein von Prozessen begonnen und diverse fachliche, technische und organisatorische Aspekte mit Augenzwinkern, aber auch einer ernstgemeinten Botschaft dargestellt. Diese haben wir alle so und oder in ähnlicher Form in verschiedenen Projekten und Kundenkontexten erlebt und im Laufe des Jahres für die Nachwelt konserviert. Genug Pathos, denn mit dieser Antipatternreihe ist es wie mit Prozessen, die das Ende ihres Lebenszyklus erreicht haben. Es kommt nichts mehr – also abschalten.