Obwohl Adaptive Case Management (ACM) eines der Buzz-Wörter der vergangenen Monate ist, ist vielen nicht wirklich klar, worum es sich dabei eigentlich genau handelt.
ACM stellt sich für mich als eine Teildisziplin im Umfeld von BPM dar, das sich wiederum mit schwachstrukturierten und strukturierten Prozessen befasst. Der Fokus von BPM liegt dabei eher auf der Optimierung und Strukturierung von Prozessen, während sich ACM mit unvorhersehbaren Aufgaben beschäftigt und seinen Fokus damit auf schwach strukturierte Prozesse richtet. Grundsätzlich folgt ACM einem Prozess mit einem fest definierten Ziel. Die Schwäche bei ACM-Prozessen liegt darin, dass die einzelnen Schritte, wie dieses Ziel erreicht werden kann, zu Beginn nicht feststehen. Dennoch existieren in der Regel Meilensteine innerhalb eines ACM-Prozesses, die jeweils markante Fortschritte kennzeichnen.
ACM und BPM sind also keine Gegensätze, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das Zusammenspiel zwischen beiden kann z.B. so aussehen, dass manuelle Tätigkeiten in einem Adaptive Case Management System (ACMS) zwischenzeitlich automatisierte Abläufe (BPM) ansteuern. Dies ist auch umkehrbar: So kann z.B. ein automatisierter Prozess eine manuelle Aussteuerung haben.
Ein weiterer Unterschied zwischen BPM- und ACM-Prozessen liegt darin, dass die Schritte, die zu einer Instanz eines BPM-Prozesses gehören, für alle Instanzen dieses Prozesses gleich sind, wohingegen sich die Schritte eines ACM-Prozesses von Instanz zu Instanz unterscheiden werden.
Die tatsächlich durchlaufenen Schritte können sich selbstverständlich von Instanz zu Instanz auch in einem BPM-Prozess unterscheiden – beispielsweise abhängig davon, wie Gateways durchlaufen werden.
Was ist das Ziel von ACM?
In dem Buch „Mastering the Unpredictable“ findet sich die folgende inhaltliche Definition: Das Ziel von ACM ist es, dem Wissensarbeiter (Knowledge Worker) ein förderliches Umfeld zu geben, das die Arbeit im hohen Maße unterstützt.
Wissensarbeit im Umfeld von ACM ist ereignisbasiert und zielorientiert, d.h., es tritt ein bestimmtes Ereignis ein, woraufhin der Wissensarbeiter mit seiner Arbeit beginnt. Die Arbeit zu dem Ereignis wird in einem Case (Fall) abgelegt, daher der Name Case-Management. Im Case werden alle Informationen zentral abgelegt. Nach dem Eintreten des Ereignisses definiert der Wissensarbeiter ein zum Ereignis passendes Ziel (siehe folgendes Beispiel), das er erreichen möchte. Wie er das Ziel erreichen kann, weiß der Wissensarbeiter meistens noch nicht. Aus Erfahrungen und erworbenem Wissen kann der Wissensarbeiter aber abschätzen, wie der grundsätzliche Weg aussieht, welches markante Fortschritte bzw. Meilensteine in Richtung des Ziels sind und wie die nächsten Schritte aussehen können. Er weiß auch, mit wem er in Kontakt treten muss, um das jeweilige Teilziel im Blick zu behalten und das Gesamtziel zu erreichen.
Hierzu ein Beispiel. Ein Skiläufer bricht sich ein Bein (Ereignis). Der behandelnde Arzt (Wissensarbeiter) öffnet einen neuen Case (Fall), in dem er alle Daten und Informationen zur Behandlung vermerkt. Dies können Befunde, Röntgenbilder und anderes sein. Ziel (Goal) des Arztes ist es, dass der Skiläufer wieder gesund wird.
Was grundsätzlich bei einem Beinbruch zu tun ist, weiß der Arzt. Aber wie die genauen Schritte für die Behandlung unseres Skiläufers und deren exakte Reihenfolge aussehen werden, weiß der Arzt zu Beginn der Behandlung noch nicht. Die einzelnen Maßnahmen legt der Arzt nach und nach fest. Im jeweils laufenden Schritt weiß der Arzt, mit wem er kommunizieren muss und wie dieser Abschnitt grundsätzlich aussehen wird. Ein Schritt wird sicherlich das Erstellen von Röntgenaufnahmen sein, doch wie der darauffolgende Schritt aussehen wird, weiß der Arzt noch nicht. Im Beispiel der Röntgenaufnahmen muss er diese zunächst begutachten. Darüber hinaus werden die genauen Maßnahmen für einen anderen Beinbruch wahrscheinlich anders sein. Während der Behandlung werden bestimmte Fortschritte erreicht, die, wie eingangs erwähnt, dann Meilensteine darstellen: In unserem Fall könnte einen Meilenstein repräsentieren, dass das Bein soweit gesundet ist, dass der Patient nun mit den Reha-Maßnahmen anfangen kann.
Was kennzeichnet ACM?
Aus diesem Beispiel ergeben sich Punkte, die für Wissensarbeit markant sind:
- Wissensarbeit ist zielorientiert (Skiläufer soll wieder gesund sein)
- Wissensarbeit orientiert sich an dem „Was“ und nicht daran, „wie“ etwas getan wird.
Das „Was“ stellt das Ziel dar, das der Wissensarbeiter erreichen möchte.
Mit „Wie“ ist hier ein vorher definierter Ablauf von Schritten gemeint. Dies sind in der Regel Teilabläufe wie beipielsweise das Erstellen von Röntgenaufnahmen. - Wissensarbeit kennzeichnet, dass die genaue Abfolge der Schritte nicht vorher bekannt ist – ebensowenig, welche Schritte im Einzelnen durchgeführt werden. Wissensarbeiter wissen aber, welche Schritte grundsätzlich zu einem bestimmten Ereignis gehören. In unserem Beispiel weiß ein Arzt bei einem Beinbruch im Vorfeld nicht, welche Schritte er genau in welcher Reihenfolge durchführen wird. Der Arzt weiß aber, welche Schritte grundsätzlich unternommen werden, wenn sich jemand ein Bein gebrochen hat.
- ACM orientiert sich an einem schwach strukturierten Prozess, der sich entfaltet. Der grundsätzliche Prozess ist bekannt (welche Maßnahmen folgen auf einen Beinbruch). Welche Schritte dies dies im einzelnen sind und in welcher Reihenfolge sie durchlaufen werden, ist zu Beginn nicht bekannt. Der Prozess entfaltet sich also von Schritt zu Schritt und erst am Ende ist bekannt, welche Teilbereiche wirklich durchlaufen worden sind.
- Jeder Fall ist anders (ein Beinbruch ist nicht gleich einem anderen Beinbruch).
- Wissensarbeit bedingt in der Regel eine Kommunikation mit anderen Beteiligten.
- Die einzelnen Schritte hin zum Ziel werden dokumentiert.
Dies sind meiner Meinung nach zunächst die wichtigsten Erkenntnisse.
Mit diesen markanten Punkten für Wissensarbeit können wir Elemente für ein ACM-System (ACMS) definieren.
Adaptive-Case-Management-System (ACMS)
Aus dem bisher Geschilderten und inspiriert von den Anforderungen an ein ACMS, die Keith D. Swenson (s. masteringtheunpredictable.com) beschreibt, lassen sich die folgenden Elemente definieren, die ein ACMS beinhalten kann:
- Team: Das Team organsiert die Arbeit und die damit verbundenen Aufgaben zur Erreichung des Ziels. Das Team ist kein technischer Bestandteil des ACMS, es steht hier vielmehr als Platzhalter, um zum Ausdruck zu bringen, dass ein ACMS kein Single User System ist, sondern im Team von mehreren Anwendern genutzt wird.
- Case: Im Case werden alle Informationen zu einem Fall an einer zentralen Stelle zur Verfügung gestellt. Dies bedeutet nicht, dass die Informationen auch zentral gespeichert werden müssen.
- Prozessanalyse: Die Prozessanalyse dient u.a. dazu, Muster in den Entscheidungen der Wissensarbeiter zu finden. Anhand dieser Muster können dann Prozessfragmente definiert werden und in ein Template überführt werden. Das Template kann z.B. eine Checkliste oder auch ein automatisierter Teilprozess sein. Hier fließen dann ACM und BPM zusammen.
- Ziel: Für jeden Case (Fall) wird ein Ziel definiert. Das Ziel stellt das „Was“ dar. Anschließend wird die nächste Aufgabe definiert und damit auch das „Wie“ der Aufgabenerfüllung. Es können auch mehrere Aufgaben definiert werden. Wichtig ist, dass die Aufgaben ausschließlich der Erreichung des Ziels dienen. Dies bedeutet, dass Aufgaben sich zu jeder Zeit ändern oder auch ganz gestrichen werden können. Prozessfragmente bzw. Templates (s. Prozessanalyse) können auch Aufgaben sein.
- Kommunikation: Im ACMS können alle genutzten Arten von Kommunikation im Case abgelegt werden. Dies können z.B. Telefon, E-Mail, Videokonferenz oder Fax sein.
- Historie: Tracking aller Änderung am Case. Für die Mitarbeiter im Team muss zu jeder Zeit nachvollziehbar sein, welche Schritte bereits gelaufen sind. Die Historie ist Teil der zentralen Informationsklammer bzw. des Cases.
- Sicherheit: In der Regel arbeiten mehrere Beteiligte an einem Case. Daher muss das ACMS einen dedizierten und gesicherten Zugriff auf die Informationen im Case und den Aufgaben bieten. In unserem Beispiel mit dem Beinbruch soll das Team, das die Röntgenaufnahmen durchführt, keinen Zugriff auf vertrauliche Informationen haben, die der Arzt im Case erfasst hat.
- Social Mining: Hierbei wird analysiert, mit welchen Partnern im jeweiligen Fall gearbeitet wird. Das ACMS leitet hieraus Präferenzen und Skills ab und macht Vorschläge, mit welchen Partnern fortan gearbeitet werden könnte.
- Einhaltung Konformität: Im ACMS werden Geschäftsregeln hinterlegt. Das ACMS prüft, ob diese im jeweiligen Fall eingehalten werden und macht Vorschläge, wie fortgefahren werden könnte, um die Regeln einzuhalten. Es gibt „harte“ Regeln wie etwa gesetzliche Anforderungen und „weiche“ Regeln wie z.B. Genehmigung für einzelne Mitarbeiter nur bis 100.000 €.
- Sensoren und Trigger: Das ACMS überwacht interne und externe Sensoren oder reagiert auf interne oder externe Trigger.
- Datenaustausch: Das ACMS ermöglicht den Datenaustausch von und zu externen Systemen. Hierzu gehört auch die Überführung von Datenformaten von externes in internes Format und umgekehrt.
- Reporting: Das ACMS bietet die benötigten Berichte. Dies können welche zur Kommunikation sein, wie z.B. ein Video-Protokoll, Berichte zu einem gezielten Fall oder auch aggregierte Berichte über mehrere Fälle. Das Reporting kann auch für die Prozessanalyse genutzt werden, um etwa zu einem KVP zu kommen.
Welche dieser Elemente in einem konkreten Szenario benötigt werden und wie diese ausgeprägt sind, muss jeweils geprüft werden.
Fazit
Meiner Meinung nach wird uns ACM in den nächsten Jahren beschäftigen. Viele Ideen sind zwar nicht neu, können aber leichter oder überhaupt erst mit aktuellen Techniken realisiert werden. Hierzu gehört zum Beispiel eine tiefe Integration von externen Einflüssen (Systemen), die im Umfeld von ACM besonders wichtig ist, um Veränderungen zeitnah sichtbar zu machen und entsprechend schnell darauf reagieren zu können. Mit der fortschreitenden Service-Industrialisierung und der damit einhergehenden Standardisierung von Schnittstellen wird es zukünftig einfacher und kostengünstiger werden, externe Systeme anzubinden.
ACM und BPM sind nach meiner Einschätzung sehr eng miteinander verbunden. So gehört auch vieles, das in den letzten Jahren im BPM-Umfeld Einzug in die IT-Welt gefunden hat, mit zu einem ACMS. Ohne die Teilautomatisierung von Prozess-Fragmenten ist ein ACMS nicht wirklich denkbar, damit ein Wissensarbeiter effizient und produktiv mit ihm arbeiten kann.
Ich hoffe, ich konnte damit die Frage beantworten, worum es bei ACM geht und was es beinhaltet. Gern tauche ich in einem folgenden Beitrag noch weiter in ACM ein und gebe ein praktisches Beispiel, wie ein ACMS aussehen kann.
Literatur
Keith D. Swenson: Mastering the Unpredictable. How Adaptive Case Management Will Revolutionize the Way That Knowledge Workers Get Things Done, Meghan-Kiffer Press 2010