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Alleskenner oder Alleskönner

Bei der Implementierung von Projekten geht es darum, ein passendes Projektteam zusammenzustellen, um den temporären Bedarf an qualifizierten Fachkräften zu decken. Dabei kann man grundsätzlich zwischen zwei Anforderungen unterscheiden: ein Bedarf an Fachspezialisten, die die Fähigkeit besitzen, eine konkrete Klasse von Problemen zu lösen und ein Bedarf an Generalisten, die durch ihre Erfahrung im Lösen unterschiedlicher Probleme und ihr Organisationstalent zur Findung neuer Wege und Lösung unerwarteter Problemstellungen beitragen. Leider ist dieser Bedarf im Projekt nicht so einfach zu klassifizieren, so dass es hilfreich wäre, klar zu erkennen, ob es an dem Einem oder am Anderen fehlt. Gerade diese Differenzierung wird leider allzu oft unterschätzt.

In meinen Augen ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Problemlösung die Trennung des Problems in zwei Anteile: das Fehlen des Wissens und das Fehlen des Könnens. Erst wenn man diese zwei Anteile des Problems erkannt und voneinander abgegrenzt hat, kann man das Problem effektiv lösen. Dr. G. Wohland geht sogar einen Schritt weiter und bezeichnet diese Phase als eine Problemtransformation, die notwendig ist, um zu einer unternehmerischen Höchstleistung zu kommen [1]. Dabei gibt es selten Probleme, die nur einen Anteil aufweisen, es ist vielmehr die Kombination beider, die aus einem trivialen Zusammenhang ein Problem macht. Dies gilt sowohl für die Lösung der Probleme in einer Unternehmens- als auch in einer Projektorganisation.

Eine etwas andere Darstellung oder Aufteilung dieser zwei Aspekte eines Problems ist die Unterscheidung des Komplizierten vom Komplexen. Das Cynefin Framework[2] gibt den Rahmen dafür vor.

Grafische Darstellung des Cynefin-FrameworksEtwas ist kompliziert, wenn die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung anhand einer Vorabanalyse oder einer anderen Prüfung, aber vor allem durch die Anwendung vom Fachwissen festgestellt werden kann. Um den komplizierten Anteil des Problems zu lösen, wird vor allem Wissen benötigt. Das Verhaltensmuster zur effektiven Lösung eines solchen Problems ist: Erkennen, Analysieren, Reagieren. Wenn ich zum Beispiel eine Route durch eine mir unbekannte Stadt plane, so ist das Problem für mich kompliziert – für einen Taxifahrer, der umfassendes Wissen über die Stadt und ihre Straßen besitzt, jedoch nicht. Und ich kann mein fehlendes Wissen zum Beispiel dadurch ausgleichen, dass ich einen Stadtplan nutze oder indem ich einen Taxifahrer frage.
Wenn man vor einer komplizierten Aufgabe steht, geht es bei der Lösungsfindung darum, eine möglichst genaue Analyse durchzuführen. Je mehr Daten dabei zur Verfügung stehen, desto genauer kann die Analyse ausfallen. Komplizierheit kann demnach als das Maß an Unwissenheit des Beobachters beschrieben werden. Wenn Zeit für die Gewinnung von Informationen benötigt wird, dann sollte man diese aufwenden, denn nur so kann das benötigte Wissen gesammelt und angewandt werden. Ein effektiver Ansatz zur Lösungsfindung ist die Trennung des Komplizierten in Teile, die jeweils kleiner sind. Dadurch wird weniger Wissen benötigt, um die Analyse durchzuführen. Der Grad der Kompliziertheit lässt sich also reduzieren, indem man das Problem mehrfach aufteilt.

Komplexität hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nicht im Voraus, sondern erst im Nachhinein wahrgenommen werden kann. Der Ansatz für solche Fälle ist: Probieren, Erkennen, Reagieren. Dabei gibt es nicht qualifizierbare Merkmale, wie Talent oder Riecher, die einige Menschen besitzen, um in solchen Situationen Entscheidungen zu treffen oder eine zündende Idee zu haben, die wir im Nachhinein als richtig erkennen. Es gehört auch eine Portion Mut dazu, etwas ganz Neues auszuprobieren. Vor allem gibt es aber kein Fachwissen, das zur Problemlösung beiträgt, sondern die Entscheidung basiert rein auf einer menschlichen Einschätzung, die auch fehlerhaft sein kann. Diese Fähigkeit zum Entwickeln einer Idee oder zum Treffen einer Entscheidung ohne ausreichende Wissensgrundlage fassen wir unter dem Begriff „Können“ zusammen. Beispielsweise nimmt ein Rabe einen Stock zu Hilfe, um an Futter heranzukommen. Er probiert nacheinander unterschiedliche Stöcke aus, bis er schließlich einen findet, mit dem er das Futter nahe genug an sich heranbewegen kann, um es mit seinem Schnabel zu erreichen.

Versucht man eine komplexe Aufgabe zu lösen, spielt das Fachwissen keine so große Rolle mehr. Die Lösung kann nicht durch die Ansammlung von Wissen herbeigeführt werden. Wäre es so, wäre ja die Aufgabe nicht komplex, sondern lediglich kompliziert. Was benötigt wird, ist eine neue Idee. In dieser Situation lohnt es nicht, lange zu warten, sondern man probiert Lösungsansätze aus. Das Problem dabei ist, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, die man probieren könnte. Genau diese Auswahl aus einer unendlichen Menge ist das Komplexe. Ein Könner hat das Talent, aus dieser unendlichen Menge wenige Kandidaten auszuwählen und die restlichen zu verwerfen.

Ein weiterer Quadrant des Cynefin-Frameworks bescheibt triviale Problemstellungen, bei denen die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung offensichtlich ist. Der Anteil dieser Art von Problemen ist groß; ihnen wird bereits effektiv begegnet, indem auf bewährte Lösungen zurückgegriffen wird.

Bei chaotischen Problemstellungen hingegen kann keine systematische Beziehung festgestellt werden. Wenn chaotische Zustände herrschen, kann die Lösung des Problems nicht garantiert werden.

In einem IT-Projekt, das als Ziel hat, ein neues System zu entwickeln, bilden die Erfüllung der funktionalen und der nicht-funktionalen Anforderungen den komplexen Anteil. Dieser wird durch gekonntes Anforderungsmanagement, geeignete Architektur und erprobtes Vorgehen adressiert. Die Qualität und der Betrieb des fertigen Systems bilden den komplizierten Anteil, der durch Qualitäts- und Servicemanagement adressiert wird. Die Implementierung ist das Bindeglied zwischen dem Konzept und dem eigentlichen System und hat beide Anteile: kompliziert und komplex. Nur wenn beide Anteile in der Softwareentwicklung angemessen berücksichtigt werden, kann ein System entstehen, das sowohl die Anforderungen erfüllt als auch erfolgreich und wirtschaftlich betrieben werden kann.

Im realen Leben sind die Probleme weder nur kompliziert noch nur komplex, sondern meistens eine Kombination beider Aspekte. Die erste Herausforderung ist, diese Dualität zu erkennen und die beiden Aspekte voneinander zu trennen. Hat man das geschafft, wird klar, ob es an Wissen oder an Können fehlt. Der Mangel an Wissen kann dadurch ausgeglichen werden, dass man sich Kenntnisse aneignet oder eine Person mit dem erforderlichen Wissen zur Lösungsfindung hinzuzieht. Beim fehlendem Können kann nur eine talentierte Person helfen, entsprechende Ideen zu entwickeln. Auch die Methoden zur Lösung der Problemteile unterscheiden sich grundsätzlich, so dass sich daraus unterschiedliche Anforderungen an die Projektorganisation ergeben. Missachtet man diese, wird die Lösungsfindung unnötig erschwert.

Wenn Ihr also das nächste Mal vor einem komplexen Problem steht und es euch unlösbar erscheint, schaut es genauer an, es ist vielleicht nur kompliziert. Bei der Besetzung der Rollen im Projekt ist es wichtig, die verfügbaren „Könner“ und „Kenner“ entsprechend den Problemschwerpunkten einzusetzen, sonst sind die Leute nur frustriert.

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Über den Autor

Simon Zambrovski ist als Senior Berater der Holisticon AG in Hamburg, BPM-Craftsman, Arhictekt und Entwickler in IT-Projekten unterwegs. Er entwickelte maßgeblich eine Methodologie zur Durchführung von agilen BPM Projekten. Sein aktuelles Interesse gilt der Automatisierung von Geschäftsprozessen, den Event-Driven Microservices und dem Enterprise Architektur Management.

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